Gleich beim Eingang rechts bleibe ich vor einem Grabstein stehen. Ich wippe auf meinen Schuhen. Das ist gut für die Muskeln. Ich betrachtet das Grab. Der Wind wirbelt Blätter in der Luft herum. Es ist das Grab der Familie Junge. Er heißt Carl-Rudolf und seine Frau Doris. Sie, 1823 geboren, war zwei Jahre älter als ihr Mann und hat ihn um drei Jahre überlebt. 1884. Ihr Todestag. Ein einfaches Kreuz ziert den Grabstein. Es scheint, als seinen sie kinderlos gestorben. Die leere Fläche unter ihren Namen spricht eine eigene Sprache. Lange Jahre des Kinderwunsches. Keine Erfüllung. Sehnsucht und die Auseinandersetzung mit dem Gedanken keine Nachkommen zu haben. Niemand, dem man das, was man im Leben erreicht hat, weiter geben kann. Irgendwie traurig. Trotzdem hatten sie eine gute Ehe. Denke ich. Vielleicht hatten sie aber auch Töchter, die wiederum bei ihren eignen Männern begraben sind. Ich glaube sie hatten keine. Sie war vielleicht zum Zeitpunkt der Eheschließung schon zu alt, um welche zu bekommen. Die letzten drei Jahre ihres Lebens müssen sehr einsam gewesen sein. Ohne ihren Carl-Rudolf. Ohne Kinder. Ohne Enkel. Eine einsame alte Frau. Mit einem zugesicherten Grab-Platz. Entfernte Verwandte haben sich um ihre Beerdigung gekümmert. Geplant hat sie alles bereits selber.
Es ist ungewöhnlich für die Zeit, dass sie älter war, als ihr Mann. Ich denke es war eine Liebesheirat und dass sie eine wunderschöne Frau war. Selbstbewusst und stark. Vielleicht hatte sie Sommersprossen. Und rote Haare. Und seine Familie war gegen die Heirat, weil sie einen zwielichtigen Hintergrund hatte. Aber er wollte diese Frau heiraten. Seine Familie musste sich damit abfinden. Ihr Mädchenname war Pausch. Dass zeigt mir, dass sie nicht Carl-Rudolfs Schwester war. Nein. Sie war seine Frau. Und sie waren dreißig, vielleicht vierzig Jahre verheiratet.
Ein Baum wächst schräg vor ihrem Grabstein, der an der roten Backsteinmauer hängt. Es ist ein großer Stein. Mit dunklem Marmor ausgelegt, in den ihre Namen eingemeißelt sind. Angelegt für eine große Familie. Ich betrachte den Boden unter meinen Füssen. Erde und spärliches Frühjahrgras. Ich stehe also auf dem Boden, unter dem sie liegen. Es ist bestimmt nichts mehr übrig von ihnen. Höchstens noch ein paar Zähne. Vielleicht die Eheringe, die sie mit in den Sarg genommen haben. Heute weiß niemand mehr etwas über sie. Da liegen sie – oder ihre Überreste. Hoffentlich sind sie im Himmel. Bestimmt.
Dann wandere ich weiter. Mein Blick streift über weitere Grab-Steine, aber mit meinen Gedanken bin ich beim Ehepaar Junge. Der Kies auf dem Weg knirscht unter meinen Schuhen. Ich gehe einmal um den Friedhof herum. Ein paar Jogger überholen mich mehrmals. Bevor ich durch das große Eisentor wieder nach draußen gehe, bleibe ich noch mal kurz bei den Junges stehen. Ich nicke kurz zu ihrem Grabstein hin und verabschiede mich. Es ist ein bisschen, als hätte ich sie gekannt. Dann wende ich ihnen den Rücken zu, verlasse den Friedhof und wandere zurück in mein eigenes Leben.