Mittwoch, 5. Januar 2011

Leben und Sterben in Kaligat

Seit ich hier bin sind vier Frauen und zwei Maenner in Kaligat verstorben. Gestern war es Agnes und es war das erste Mal, dass ich es direkt miterlebt habe. Alle anderen hatten sich in der Nacht verabschiedet. und alles was wir am naechsten Tag mitbekommen haben war, dass ein neuer Gast das Bett belegt hatte. 
Agnes war bereits seit zwei Jahren in Kaligat und hatte sehr schweren Brustkrebs. Eine kleine, zierliche alte Frau mit Runzeln im ganzen Gesicht und frechen Augen. Ich habe sie jeden Tag in den letzten zwei Wochen gesehen, auch wenn ich mit ihr keinen so intensiven Kontakt hatte wie mit manchen anderen. Sie konnte ausgesprochen grantig sein, hatte haeufig ziemliche Schmerzen. Jeden Tag wurde sie von Sr. Koruna frisch verbunden. Die Wunde war kein schoener Anblick. Die letzten zwei Tage war sie erstaunlich aufgeweckt und froehlich. Hat garnicht gejammert oder gemotzt. Vorgestern in der Nacht ging es ihr dann wohl schon sehr schlecht und so hat sie gestern das Bett nicht mehr verlassen. (Die meisten stehen am Tag auf und sitzten im Flur herum.). Der gelassene Rythmus des Tages lief einfach weiter ab. Die Betten wurden geputzt, der Boden gewischt, Chai an alle verteilt. Immer wieder sass jemand an ihrem Bett, hielt ihre Hand. So gegen elf hat sie dann einfach aufgehoert zu atmen. Eine andere Volontairin hat es bemerkt. Wenn jemand stirbt, dann kommen die meisten die da sind und versammeln sich um das Bett der Verstorbenen. Die Schwestern beten ein Totengebet, alle gemeinsam ein Ave Maria und ein Vater Unser. So auch gestern. Alle beten mit, egal was sie glauben. Es ist eine auf eigenartige Weise zarte Stimmung die entsteht.  Es tritt ein Augenblick der Stille ein, der einem bewusst macht worum es hier geht. 
Schliesslich wurde Agnes gewaschen und in frische Kleidung gesteckt. Dann wurde eine Decke ueber sie gebreitet, bis sie abgeholt wurde. Jeder wird nach seiner eigenen Religion beerdigt. In ganz wenigen Faellen kommt nach dem Tod die Familie und uebernimmt die Beerdigung, aber meistens tragen das die Schwestern.

Viele der anderen Frauen in Kaligat haben sehr geweint, als Agnes gestorben ist. Shepali, die seit 12 Jahren in Kaligat ist, voellig unbeweglich immer auf ihrem Bett liegt und verhaeltnismaessig gutes Englisch spricht hat mir ein bisschen von ihr erzaehlt. Ihre Trauer war nicht zu uebersehen. Sie sagt es sei schwer - immer wieder sterben Menschen, die Teil ihrer Welt geworden sind. Und diese Welt ist sehr klein. Aber sie glaubt an Gott und dass Agnes jetzt an einem schoenen Ort ist.
Troestende Arme waren bei den meisten sehr willkommen. Ich habe mir viele Details ueber Agnes in Hindi und Bengali angehoert. Schliesslich war sie zwei Jahre Teil der "Familie" gewesen und gut bekannt. Man wuerde meinen, dass es an einem solchem Ort zur Tagesordnung gehoert, dass jemand stirbt, aber das stimmt nicht. Immer wieder laeuft es wie ein Schauer der Erschuetterung durch die dortigen Bewohner. Die Traenen sind aus Trauer, aber auch aus Angst vor dem eigenen Tod gerollt. Und doch ist es einfach Teil des Ganzen. und schon das Mittagessen lenkt den Sinn der meisten wieder in freohlichere Gefilde.
Es ist ein kommen und gehen. Kaum war der Leichnahm abgeholt worden, kam schon eine neue Frau, die das Bett eingenommen hat. Hulda. Jeden Tag gehen Schwestern und laenger bleibende Volontaire raus auf die Strasse und in die Slums um die zu suchen, die niemanden haben, die am Ende sind. Stirbt einer, dann wissen sie bereits wo sie hingehen muessen um jemand Neuen fuer das Bett zu finden. Als Schwester Koruna unseren Neuankoemmeling Hulda fragte, wie es ihr geht, antwortete diese mit kleiner Stimme aus einem Buendel Decken: 
"Ich existiere irgendwie."

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